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Von – 10. März 2013

Opfer, Kreuz und Trinität – eine Podiumsdiskussion

Über den Begriff „Opfer“ sprachen Ina Praetorius, Theologin aus der Schweiz, Björn Beck von der Jüdischen Gemeinde Wiesbaden und Antje Schrupp, Redakteurin von „Evangelisches Frankfurt“  voriges Jahr in der Matthäuskirche. Wir dokumentieren hier eine gekürzte Abschrift der von Pfarrer Lars Kessner moderierten Diskussion.

„Das Kreuz mit dem Kreuz“ war der Titel einer Ausstellung des Künstlers Ralf Kopp in der Matthäuskirche im vorigen Jahr. Ein Katalog dazu ist jetzt erschienen, er enthält auch die Abschrift der hier dokumentierten Podiumsdiskussion und ist für 9,50 Euro im Gemeindebüro der Hoffnungsgemeinde (gemeindebuero@ev-hoffnungsgemeinde.de) erhältlich.

„Das Kreuz mit dem Kreuz“ war der Titel einer Ausstellung des Künstlers Ralf Kopp in der Matthäuskirche im vorigen Jahr. Ein Katalog dazu ist jetzt erschienen, er enthält auch die Abschrift der hier dokumentierten Podiumsdiskussion und ist für 9,50 Euro im Gemeindebüro der Hoffnungsgemeinde (gemeindebuero@ev-hoffnungsgemeinde.de) erhältlich.

Lars Kessner:

Es ist immer gut, am Anfang zu beginnen.  Ich lese aus dem ersten Buch Mose: „Es begab sich aber nach etlicher Zeit, dass Kain dem Herrn Opfer brachte von den Früchten des Feldes, und auch Abel brachte von den Erstlingen seiner Herde und von ihrem Fett. Und der Herr sah gnädig an Abel und seine Opfer.“ Was bedeutet Ihnen diese Geschichte? Was sagt sie Ihnen über das Opfer?

Björn Beck:

Das ist eine schwierige Frage. Das Opfer spielt heute im jüdischen Glauben nur eine sehr randständige Rolle. Sich aufzuopfern hat sicherlich, wie auch im Christentum, eine Wertschätzung. Aber Opfer in diesem Sinne gibt es heute im jüdischen Ritus nicht mehr. Ich verbinde mit dieser Geschichte immer auch Eifersucht. Dieses Geben und Nehmen klingt ein bisschen nach Kuhhandel, das spricht mich nicht wirklich an. Wenn ich bete, erwarte ich von Gott keine Gegenleistung.

Ina Praetorius:

Was heißt Opfer? Ich würde sagen, der kleinste gemeinsame Nenner ist, dass es um eine Ausgleichshandlung geht, also darum, dass sich Menschen in irgendeiner Weise verpflichtet fühlen, einen Ausgleich zu schaffen. Und zwar nicht zwischenmenschlich – das wäre dann die Kollekte oder der Tausch, Geld gegen Ware oder Ware gegen Ware. Sondern es gibt noch diese Vorstellung, dass ich dem Universum etwas schuldig bin. Weil ich mich zum Beispiel falsch verhalten haben, weil ich mich klein und hässlich fühle, weil ich das Gefühl habe, ich habe zu viel geschenkt bekommen. Wir haben ja eigentlich alles geschenkt bekommen, was wir sind, inklusive uns selber. Da ist es nur logisch, dass Menschen immer wieder das Gefühl haben, sie seien dem Universum, dem Göttlichen, dem großen Um-uns-herum etwas schuldig. Das ist die Grundkategorie des Opferns.

Und dann ist der Begriff „Opfer“ natürlich in anderen Zusammenhängen ganz geläufig. Zum Beispiel spricht man vom Verkehrsopfer. Der Begriff ist theologisch irgendwie ad acta gelegt, in der Alltagssprache aber nach wie vor vorhanden. Und jetzt wäre interessant, da weiter zu fragen: Wo genau und in welchem Sinn?

Antje Schrupp:

Das Englische hat für das Wort Opfer ja zwei Begriffe, „sacrifice“ und „victim“. Wer „victim“ wird, ist ein passives Opfer, erleidet etwas. Jemand wird zum Beispiel Opfer einer Gewalttat. Auf der anderen Seite ist „to sacrify“ der aktive Part. Ich opfere etwas. Wie zum Beispiel Helden, die sich opfern für eine Sache. Ich bin mir nicht sicher, ob es gut oder schlecht ist, dass wir im Deutschen für „Opfer“ nur ein Wort haben. Es ist natürlich einerseits schlecht, da wir diese Unterscheidung nicht treffen können und dadurch vieles durcheinander geht. Es ist aber vielleicht ganz gut, weil sich diese beiden Aspekte dann nicht so leicht voneinander trennen lassen, wie es das Vorhandensein von zwei verschiedenen Wörtern nahelegt. Denn es gibt ja durchaus einen Zusammenhang.

Ich glaube, dass es eigentlich noch einen dritten Aspekt von „Opfer“ gibt, nämlich das „Sich hingeben“, was für mich ein Zwischending ist. Für mich hat Jesus – um jetzt mal den Bogen dahin zu schlagen – in der Kreuzigungsgeschichte sich hingegeben weder als „Victim“ noch im Sinne von „Sacrifice“, sondern  auf eine Weise, die die Philosophin Simone Weil „passives Handeln“ nennt. Passiv Handeln bedeutet, dass ich etwas mit mir geschehen lasse, aber in einem aktiven bewussten Sinn. Ich führe es nicht herbei, aber es widerfährt mir auch nicht einfach so wie ein Verkehrsunfall.

Lars Kessner:

Mag einer von meinen Mitdiskutanten erzählen, wann er, ob er geopfert hat? Was das in seinem Leben bedeutet „Ich habe geopfert“, „Ich habe etwas geopfert“, „mich geopfert“?

Ina Praetorius:

Für mich ist der Begriff, auf mich selber angewandt, eigentlich nicht vorhanden. Das hat vermutlich mit der feministischen Theologie zu tun, die den Begriff oder diese ganze Tradition des Opfertodes stark kritisiert hat. Ich selber nenne mich inzwischen „postpatriarchale Denkerin“, das heißt, ich fange „jenseits oder diesseits dieser verkehrten Ordnung“ an, ganz allmählich eine neue Ordnung zu entwickeln. Das hat für mich aber zur Folge, dass der Begriff des Opfers wie eingeschlafen ist. Er ist nicht mehr aktiv in meinem Wortschatz.

Gerade im Bezug auf das Thema Kreuz ist es mir sehr wichtig, von der Vorstellung wegzukommen, dass es die eine Kreuzestheologie gibt, die um den Begriff des Opfers zentriert ist. Wir brauchen eher eine Landschaft von verschiedenen Bedeutungen. Schon die vier Evangelisten haben ja verschiedene Deutungen des Kreuzesgeschehens. Auch bei Paulus ist es nicht so klar um das Opfer zentriert. Dass der Begriff „Opfer“ für mich nicht so zentral ist, hat auch kirchenpolitische Gründe, denn ich meine, es ist wichtig, Begriffe, die sehr, sehr zentral waren und viel Unheil angerichtet haben, erst einmal zur Ruhe zu betten und zu sagen: Schlaft Euch mal aus, vielleicht holen wir Euch später wieder raus, aber jetzt ist erst mal Ruhe.

Lars Kessner:

Frau Schrupp, wie ist es in Ihrem Leben: Opfern Sie? Haben Sie geopfert?

Antje Schrupp:

So wie ich es eben als passives Handeln beschrieben habe, habe ich sicher schon geopfert. Ich habe es aber nie so genannt. Weil das Wort einfach schon mit anderem besetzt war. Meine Beschreibung vorhin war der Versuch, mich wieder anzunähern an diesen Begriff, was wahrscheinlich aus theologischer oder christlicher Sicht gar nicht unbedingt nötig wäre. Aber mich interessiert es, weil das Wort heute wieder so stark in der Alltagssprache präsent ist. Es wird zum Beispiel als Schimpfwort benutzt – „Du Opfer“. Es gibt offensichtlich ein gesellschaftliches Bedürfnis, über Opfer zu sprechen, und ich denke, wenn wir im Christentum schon eine so lange Tradition mit diesem Begriff haben, könnte es ja sinnvoll sein, sich zu überlegen, ob wir da etwas herausziehen könnten, um uns in diese  gesellschaftliche Diskussion einzubringen.

Wobei dieser Prozess meiner Meinung nach erst einmal selbstkritisch sein muss. Einfach zu behaupten, die christliche Dogmatik würde Antworten auf gesellschaftliche Fragen geben, ist mir ein Schritt zu schnell. Zuerst müssen wir uns überlegen, ob denn da wirklich etwas herauskommt, das für diesen Diskurs relevant sein kann. Ich bin mir da gar nicht so sicher.

Björn Beck:

Mir fiel dazu ein, dass in vielen amerikanischen Filmen irgendein jüdischer Charakter ein Opfer ist. Man hört oft diesen Spruch „Wir als Minderheit, wir als Verfolgte“, wir haben das Opfer quasi mit eingebaut. Ich habe zwei Situationen erlebt, wo ich in diese Opferrolle hineingedrängt und völlig absurd mit Antisemitismus konfrontiert wurde, obwohl ich mir angewöhnt habe, selbstbewusst aufzutreten und mir diesen Opferschuh nicht anzuziehen. Da war einmal eine junge Frau mit Kopftuch, die aus dem Bus ausstieg, sich vor mich hinstellte und „Heil Hitler“ sagte. Sie hatte meine Kippa gesehen, die ich am Anfang meines Studiums immer trug. Ich nahm dann die Kippa ab, schaute so ein bisschen von oben auf die Frau herunter, denn sie war auch kleiner als ich, und sagte: „Ich bin groß, ich habe blaue Augen und blonde Haare. Was glaubst Du, wen es unter Hitler zuerst erwischt hätte?“ Ich habe ihr das damals nicht übel genommen, sondern mir einfach gesagt, die hat keine Ahnung.

Ein anderes Mal bin ich allerdings in eine wirklich unangenehme Situation geraten. Drei ältere Kerle wollten mich verprügeln, dann kam aber ein Deutscher dazu und hat es aufgelöst. Sonst hätte ich wohl ordentlich eins auf die Mütze gekriegt.

Zu allererst hatte ich aber bei Ihrer Frage einen anderen Gedanken. Vor gut anderthalb Jahren wurde meiner Schwester eine Niere transplantiert, und im Zuge dessen stand zur Debatte, wer das Organ spenden würde: meine Mutter, ich oder mein Vater. Und man könnte vielleicht sagen, man „opfert“ ein Organ. Aber das „Ob“ stand überhaupt nicht zur Diskussion, und es stand auch nicht zur Diskussion, ob das ein Opfer ist. Es war eine Selbstverständlichkeit. Mir würde das Organ nicht fehlen, meiner Schwester würde es das Leben retten oder zumindest sehr erleichtern und ihr die Dialyse ersparen. Am Ende wurde es meine Mutter, weil sie darauf bestanden hat. Aber das, was ich dabei erlebt habe, war überhaupt nichts Negatives, sondern dass die Familie sehr viel enger zusammengerückt ist. Wenn man das als Opfer betrachtet kann – was ich nicht so empfunden habe – dann hat es uns viel mehr gebracht als das, was man als Opfer gebracht hätte. Also das, was man zurückbekommt, ist viel mehr, als der Preis, den man bezahlt hat.

Lars Kessner:

Frau Praetorius hatte von den verschiedenen Deutungen des Todes Jesu gesprochen, wovon die Deutung als Opfer nur eine ist. Darauf kommen wir noch zurück. Ich möchte nur einmal noch für das Auditorium klar machen, was die Opfertheologie ist, diese christliche Idee vom Sühneopfer, die auf Anselm von Canterbury zurückgeht. Vielleicht ist das ja nicht allen bekannt und auch nicht, warum wir heute so nicht mehr über Opfer reden können.

Ina Praetorius:

Ich kann zwar nicht Anselm von Canterbury referieren,  aber skizzenhaft erzählen, worum es geht. Nämlich darum, dass eine politische Folter und Hinrichtung umdefiniert wurde und gesagt wurde, nicht die Römer seien die Täter gewesen, sondern Gott. Gott Vater hätte seinen eigenen Sohn ans Kreuz gebracht als Opfer, um sich mit der sündigen Menschheit zu versöhnen. So können wir heute eigentlich nicht mehr von Gott sprechen.

Lars Kessner:

Wie sehen Juden das Kreuz Jesu Christi?

Björn Beck:

Die Kreuzigung war ja kein jüdisches Instrument, sondern damals ein Symbol der Ausstoßung aus dem Volk Israel. Einen Juden zu kreuzigen, ihn am Kreuz sterben zu lassen, war eine unglaubliche Demütigung. Nicht nur für den Menschen, sondern auch für den Boden, auf dem das passierte. Und dieses Symbol der Ausgrenzung, der Ausstoßung hat sich dann im christlichen Glauben zu einem ganz anderen Symbol umgekehrt. Das ist aus jüdischer Sicht intellektuell zwar nachvollziehbar, aber emotional nicht.

Mir ist noch etwas aufgefallen, das ich mit Unbehagen wahrgenommen habe. Bei Wikipedia gibt es eine ganze Liste von Rabbinern, jüdischen Philosophen und Persönlichkeiten, deren Todesdatum mit dem Kreuzsymbol markiert ist. Ich finde das bei einem Juden einfach unpassend, auch wenn die Leute, die das gemacht haben, sich sehr wahrscheinlich nichts dabei gedacht haben. Das Kreuz ist ein Symbol, das an dieser Stelle überhaupt nicht passt, wenn man es in einem jüdischen Kontext sieht. Es ist ein ganz schwieriger Diskussionspunkt zwischen Christen und Juden, wie man mit dem Kreuz umgeht.

Antje Schrupp:

Interessant finde ich, zu hören, dass der Kreuzestod nicht nur einfach irgendein Tod war, sondern ein symbolisch demütigender Tod, also der Ausstoß aus dem Volk Israel. Jesus war ja Jude. Da stellt sich schon die Frage warum sich das Christentum gerade dieses Symbol gewählt hat. Meiner Meinung nach kann man mit einem gewissen Grund sagen, dass die gesamte Theologie rund um Kreuz und Auferstehung erst nach Jesu Tod  erfunden wurde, nicht von Jesus selbst, sondern von denen, die überlebt haben. Sie stellten sich die Frage: Wie kann es sein, dass dieser Mann, den wir für einen besonders gottesnahen oder gottesfürchtigen Menschen gehalten haben, ausgerechnet auf diese Art und Weise stirbt? Das ist ja eine große Niederlage und muss viele Fragen aufgeworfen haben: Wie geht es jetzt weiter? War alles falsch, was wir von ihm gelernt haben?

Ich meine, die ersten Jesusanhänger und -anhängerinnen haben durch die Verarbeitung dieser Geschichte einen neuen Aspekt von Gott entdeckt, nämlich dass „Gott auf unserer Seite zu haben“ nicht bedeutet, dass Gott uns innerhalb dieser Welt zum Sieg verhilft. Dass Gott nicht der große Zampano ist, sondern im Gegenteil: Gott ist Mensch, also einer wie wir, und zwar – siehe Kreuzestod – auch noch in einem ganz besonders schrecklich gedemütigten Sinn. Ich finde, dass dieser Aspekt: „Wir denken Gott als schwach und ohnmächtig“ der besondere Beitrag des Christentums zum interreligiösen Dialog sein könnte. Weil ich glaube, dass das eine Erkenntnis über Gott ist, die für alle relevant ist, auch für Gläubige aus anderen Religionen. Natürlich ist es nur eine von vielen Erkenntnissen über Gott.

Ina Praetorius:

Historisch ist, glaube ich, wichtig zu sagen, dass das Kreuz in den ersten paar Jahrhunderten, fast bis an die konstantinische Wende – also bis an den Punkt, wo das Christentum mächtig wurde und sich mit der römischen Macht verbunden hat – gar nicht so wichtig war. Was ja auch plausibel ist, weil das römische Kreuz, also dieses Folterinstrument, gar kein Kreuz war, so wie wir es heute darstellen, sondern ein T, also ein Galgen.

Das, was du sagst, Antje, ist eine Kreuzestheologie, die mir auch sympathisch ist, aber trotzdem würde ich mich nicht auf eine kaprizieren. Es ist nämlich so, dass das Kreuz eben nicht nur ein Folterinstrument ist, sondern auch eine Elementargeometrie, die überall vorkommt. Das Kreuz gibt es durchaus auch in anderen Religionen oder anderen Kulturen, und zwar in ganz anderen Bedeutungen, zum Beispiel als Zeichen für die Verbindung von Immanenz und Transzendenz. Oder als Lebensbaum – das Kreuz als Baum, das in der feministischen Theologie auch wiederentdeckt wurde.

Früher konnte ich so eine Ausweitung überhaupt nicht leiden, weil ich dachte, das Kreuz müsse Folterinstrument bleiben, sonst nähmen wir der Theologie ihre Dramatik, ihren Skandalon. Inzwischen bin ich aber an dem Punkt, dass ich sage: Öffnet doch einmal das Symbol. Natürlich muss das Kreuz als Folterinstrument erkennbar bleiben, also ich will nicht sagen: Schafft das weg, wir wollen lieber heile Welt. Aber ich würde das Kreuz eben nicht nur auf diese eine Deutung zurückführen, sondern ich möchte zum Beispiel auch Ralfs Kuschelkreuze haben, die ich am Anfang auch sehr provozierend fand. Ich hab mir so ein Kuschelkreuz an die Wand gehängt und es dauerte, bis ich mich damit anfreunden konnte.

Björn Beck:

In der Kunst zeigt sich ja auch, dass das Kreuz in der Ikonographie eine Entwicklung durchgemacht hat: mit Korpus, ohne Korpus, Jesus als König, Triumphator. Man hat mir einmal in einer katholischen Kirche ein Kreuz gezeigt, wo man den Korpus letztendlich gar nicht mehr wirklich erkennen konnte, es gab da aber unglaublich viel Gold und Edelsteine – und es war riesig groß. Ich muss gestehen, damit kann ich relativ wenig anfangen.

Aus streng monotheistischer Sicht macht mir auch die Dreieinigkeit Gottes Bauchschmerzen, die ja auch im Kreuz ihren Ausdruck findet. Denn ich verstehe diese Trinität einfach nicht. Das ist für mich – ich sag es jetzt mal ganz provozierend – eine Perversion des monotheistischen Glaubens.

Lars Kessner:

Wir haben gesagt, diese Deutung des Kreuzes als Opfer ist nur eine innerhalb der biblischen Vielfalt. Welche Deutung des Kreuzes – oder welche biblische Deutung des Todes Jesu liegt Ihnen nahe? Wo sagen Sie, da geht mein Herz auf?

Antje Schrupp:

Für mich ist der Gedanke zentral, dass Gott ein Mensch ist. Dass Gott und Mensch in einer Person da sind, ist ja auch wirklich ein krasser Gedanke. In der christlichen Theologie wird es häufig so dargestellt, dass Gott sich selbst erniedrigt hätte: Gott ist Mensch geworden. Dieser Akt verlässt in der Tat den Monotheismus, denn dann hat man einerseits Gott und andererseits den Menschen, zu dem Gott geworden ist, also zwei. Deshalb kann ich diesen Einwand von jüdischer oder auch muslimischer Seite sehr gut verstehen. Doch wenn man wirklich denkt, Gott ist Mensch, dann verlässt man den Monotheismus nicht. Ich glaube, dass wir Christen und Christinnen selbst mit der Radikalität des Gedankens, dass Gott Mensch ist, nicht so richtig etwas anfangen können.

Ina Praetorius:

Ich freue mich an der Trinität, seit einiger Zeit, noch nicht so lange. Und zwar, weil ich den reinen Monotheismus für irgendwie unmenschlich halte: Es ist ein schöner Gedanke, aber irgendwie kaum aushaltbar. Für unsere Psyche braucht es etwas zwischen der transzendenten Sphäre und der immanenten Sphäre. Und ich finde, die Trinität ist eine gute Möglichkeit, zu sagen: Wir lassen den einen Gott, aber wir differenzieren den aus und machen ihn  in sich gesellig. Ich habe nicht den Anspruch, das logisch auf die Reihe zu bringen, aber es entspricht meiner Seele, dass Gott in sich gesellig ist und ich ihn dadurch, dass er drei ist, dass sie drei ist, nie wirklich zu fassen kriege. Das ist ja eigentlich der Witz bei dem unverfügbaren Anderen, dass immer dann, wenn ich meine, ich hab es gefasst, zum Beispiel als Vater da oben, er schon wieder als heilige Geistkraft irgendwo rumschwebt. Und wenn ich dann meine, es ist die heilige Geistkraft, ist es plötzlich der Mensch, der Sohn.

Wenn man die Geburtlichkeit ernst nimmt, ist die Inkarnation ja auch nicht irgendwie so ein blutloser und schweißloser Akt, sondern eine wirkliche Geburt. Es ist doch interessant, dass es das in der christlichen Ikonographie noch nicht gibt. Wir sprechen zwar von „Geburtsdarstellungen“,  aber dann sehen wir eine schön angezogene Dame mit einem gut eingepackten Säugling auf dem Arm. Bei den Kreuzesdarstellungen hingegen wird seit der Spätgotik der Gekreuzigte nicht mehr abstrakt dargestellt, sondern wirklich nackt, sieht man Blut und Schweiß und Schmerz und alles Mögliche. Und das könnte bei der Geburt auch passieren, dass man wirklich Geburtsdarstellungen zum Beispiel in der Kirche zeigt. Dann kämen wir dem, wovon du, Antje, jetzt angesprochen hast, noch einen Schritt näher: Dass die christliche Theologie sich quasi logisch auflöst in so etwas wie eine innerweltliche Transzendenz. Dann könnten wir möglicherweise auf die Trinität auch wieder verzichten, denn es kann schon sein, dass sie eine Art Hilfskonstrukt im Übergang ist.

Björn Beck:

Das ist jetzt sehr spannend. Das Judentum und der jüdische Glaube sind in sich auch sehr vielfältig, wir haben keine Konfessionen, alles ist ein fließender Übergang. Ich kann heute in eine orthodoxe Gemeinde gehen und morgen in eine liberale, wie gerade meine Tagesform ist. Das verändert mich persönlich nicht. Es gibt ja das lustige Sprichwort: zwei Juden, fünf Meinungen. Ich finde diese Diskussion über Trinität sehr spannend. Orthodox gesehen ist es allerdings so, dass es einen ganz strengen Monotheismus gibt.

Lars Kessner:

Ich möchte die berühmte Abendmahlsgabe „Christi Blut für Dich vergossen“ noch einmal zur Sprache springen. Ich nehme an, Frau Praetorius, Sie würden das nicht sagen beim Abendmahl, wenn Sie es reichen?

Ina Praetorius:

Doch.

Lars Kessner:

Das wundert mich jetzt. „Christi Blut für Dich vergossen?“

Ina Praetorius:

Ich habe nicht den Anspruch, dass alles, was ich in der Kirche sage, hundertprozentig und haargenau mit meiner Meinung übereinstimmen muss. Ich glaube, dass es so etwas gibt wie eine Tradition, die mich trägt und die nicht ich trage. Natürlich gibt es vermutlich auch irgendwelche Theologumena, die ich nie verstehen werde oder die ich tatsächlich absurd finde. Das schon. Aber ich kann mich auch tragen lassen von Aussagen, die ich noch nicht ganz kapiert habe. Ich nenne das die „Matrix“: Ich werde hineingeboren in die Tradition, die mich trägt, und wenn ich Glück habe, trage ich auch ein bisschen die Tradition. Ich transformiere sie. Sie ist ja, wie auch der Mutterleib, lebendig. Lebendigkeit heißt immer Veränderung. Also: Die Matrix verändert sich, aber sie ist vor mir da, und darüber bin ich froh. Denn ich könnte die Welt nicht machen.

Lars Kessner:

Und bei dieser Matrix ist es dann eben auch möglich „Christi Blut für Dich vergossen“ zu sagen.

Ina Praetorius:

Zum Beispiel. Da kann ich ja anschließend konkret erklären, was es für mich bedeutet. Aber diese Haltung, dass ich alles, was in der Kirche passiert, hundertprozentig vertreten können muss, finde ich zu anstrengend. Ich bin ja nie identisch mit dem, was meine Tradition ist.

Lars Kessner:

Was passiert beim Abendmahl bei Ihnen, Frau Schrupp?

Antje Schrupp:

Ich würde das alles, was Ina sagt, unterschreiben. Aber ich finde diese Worte speziell auch gar nicht so falsch, denn „Christi Blut für Euch vergossen“ kann man ja auf verschiedene Weise verstehen. Sicher, es gibt eine große innerkirchliche Tradition im Sinn der alten Schuldsache – also „Du bist schuld, dass Jesus gestorben ist“. Aber meine Matrix ist eine nicht kirchlich enge, meine Eltern sind nie an Karfreitag in die Kirche gegangen. Ich wäre nie auf die Idee gekommen, dass ich eventuell schuld sein könnte an Jesu Tod. Von daher habe ich persönlich diese Worte nie so verstanden, sondern eher im Sinne von „Jesus ist gestorben, damit ich es gut habe“. Wenn jemand „für mich“ einen Kuchen backt, dann habe ich ja auch keine Schuld daran, sondern kann mich freuen, dass da jetzt der Kuchen ist. Und dieses „Jesu Blut für Dich vergossen“ hab ich auch immer so verstanden, dass Jesus mir dadurch irgendwie etwas Gutes getan hat.

Und dieses Gute, wenn ich es jetzt theologisch erklären sollte, ist eben die Erkenntnis, dass es eine Möglichkeit gibt, mit dem Leid und der Ungerechtigkeit dieser Welt so umzugehen, wie es Jesus es vorgemacht hat: als passives Handeln. Also weder „Victim“ zu sein, noch „Sacrifices“ zu geben, sondern die Realität zu akzeptieren und persönlich anwesend zu sein in einer Situation, und dann das zu tun, was diese Situation erfordert. Und das kann unter Umständen sogar soweit gehen, dass man gekreuzigt wird, aber das muss nicht so sein. Es kann andere Situationen geben, in denen man etwas verändern kann, oder in denen einem was einfällt – immer mit Gottes Hilfe oder mit Hilfe der Matrix. Das ist dann fast schon deckungsgleich. Denn Gott ist nicht mehr „da oben“, sondern Gott ist da, wenn wir es wollen. Also wenn wir danach leben. Von daher kann ich diese Worte sagen und auch daran glauben.

Ina Praetorius:

Genau – das kann ich auch noch. Also ich finde das auch so:  Dass wir bei diesem „für uns“ immer an Tod denken, ist irgendwie so eine Paranoia. Dabei verwenden wir es im Alltag eigentlich ständig, ohne an Schuld zu denken, sondern im Sinne von „etwas Gutes tun“.

Publikum:

Und worin besteht dann das Geschenk? Was hab ich dann davon? Diese Theologie hat doch Gewalt gegen Frauen entschuldigt. Dagegen kann man nur protestieren!

Antje Schrupp:

Ja, was die Vorstellung betrifft, dass es einen Sinn im Kreuzigungstod gäbe – dagegen kann man nur protestieren. Aber ich bin jetzt davon ausgegangen, dass wir diese Idee, Gott hätte das gemacht, und die Gewalt und der Tod Jesu hätten irgendwie einen eigenen Sinn, sowieso schon ad acta gelegt haben. Die Kreuzigung war eine sinnlose erlittene Gewalt, wie jede erlittene Gewalttat sinnlos ist und keinerlei göttliche Rechtfertigung hat. Vor diesem Hintergrund kann ich dann sagen, dass die Art und Weise, wie Jesus damit umging, beziehungsweise wie seine Anhängerinnen und Anhänger diese sinnlos erlittene Gewalt interpretiert haben, für mich eine befreiende Erkenntnis enthält. Nämlich die, dass es möglich ist, auch angesichts von Gewalt im Sinne Gottes zu leben.

Ina Praetorius:

Es geht ja nicht darum, das Kreuz isoliert als Heilstat mit einem Kuchen zu vergleichen, den meine Mutter für mich backt. Sondern es geht darum, dass Jesus gelebt und mir dadurch neue Horizonte eröffnet hat. Und die Konsequenz dieses Lebens war die Hinrichtung. Die Hinrichtung hat keinen Sinn. Aber das Leben, das zu dieser Hinrichtung geführt hat, durchaus. Und auch in dieser Konsequenz, dass Jesus nicht im letzten Moment vor der Hinrichtung einen Rückzieher gemacht hat, sondern dass dieses Leben eben nun einmal so ausgegangen ist, wie es ausgegangen ist. Das ist das Geschenk, das uns Jesus Christus gemacht hat, nicht indem er ans Kreuz gestiegen ist, sondern indem er so gelebt hat.

Artikelinformationen

Beitrag von , veröffentlicht am 10. März 2013 in der Rubrik Gott & Glauben, erschienen in der Ausgabe , .

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